Syrien nach Assad
Gerechtigkeit schaffen und Rechtsstaatlichkeit etablieren
Januar 2025
Übersetzt von Astrid Bochnakian und Sonia Darrieumerlou/ GICJ
Einleitung
Syrien befindet sich nach dem Sturz des Assad-Regimes in einer entscheidenden Übergangsphase, einer Zeit voller Herausforderungen, aber auch offener Möglichkeiten. Die Zukunft des Landes hängt von den politischen Entscheidungen seiner neuen Führung, den Haltungen der regionalen Akteure und der Ausrichtung der internationalen Gemeinschaft ab. Um Stabilität zu sichern und ein Abgleiten ins Chaos zu verhindern, ist es unerlässlich, alle notwendigen Schritte zu unternehmen, um den Opfern von Menschenrechtsverletzungen Gerechtigkeit zu verschaffen und den Rechtsstaat zu festigen.
Wird kein rechtlich geordneter Weg eingeschlagen, droht der Zusammenbruch von Sicherheits- und Militäreinrichtungen, was innere Konflikte verschärfen und die Einheit sowie Stabilität des Landes ernsthaft gefährden könnte. In einer solchen Lage wären Übergangs Behörden geschwächt und stünden vor einer äußerst komplexen und mühsamen Regierungsarbeit.
Stabilität kann daher nur erreicht werden, wenn Rechtsstaatlichkeit durchgesetzt und Übergangsjustiz umgesetzt wird. Gerechtigkeit ist nicht nur ein Mittel, um vergangene Verbrechen aufzuarbeiten, sondern ein Grundpfeiler für den Wiederaufbau von Vertrauen, indem Täter in fairen Verfahren zur Verantwortung gezogen und Rachegelüste verhindert werden. Verantwortlichkeit sicherzustellen und den Opfern Entschädigung zu gewähren, stärkt die Legitimität der Übergang Behörden und verhindert eine Rückkehr in Gewalt Zyklen. Rechtsstaatlichkeit muss daher in der Übergangsphase oberste Priorität haben, um einen modernen Staat zu schaffen, der auf Gleichheit und Rechten basiert.
Gerechtigkeit kann weder im Chaos noch durch persönliche Racheakte der Opfer gegenüber denjenigen erreicht werden, die ihre Rechte verletzt haben. Solche Handlungen würden keine Gerechtigkeit bringen, sondern neue Unordnung und Gegengewalt erzeugen, und damit die Chance verspielen, in Syrien einen Staat zu errichten, in dem sich Bürger sicher fühlen und ihre Rechte durch das Gesetz geschützt sind. Nur auf rechtlichem Wege können Täter von Verbrechen und Menschenrechtsverletzungen strafrechtlich verfolgt werden, das ist der wahre Weg zur Gerechtigkeit.
Bei der Verfolgung von Gerechtigkeit müssen Beweise und Dokumente mit höchster Sorgfalt behandelt werden, da sie die Grundlage für die juristischen Verfahren bilden, die notwendig sind, um Täter zur Rechenschaft zu ziehen und den Opfern Wiedergutmachung zu ermöglichen. Die Freilassung von Gefangenen aus Haftzentren, insbesondere aus dem Gefängnis Saydnaya, sowie der Umgang mit den dazugehörigen Unterlagen haben jedoch gezeigt, dass in diesen Fällen bislang verantwortungsvolles Handeln fehlt.
Das Geneva International Centre for Justice schlägt wesentliche Schritte vor, um in der nächsten Phase Syriens die Rechtsstaatlichkeit zu verankern, die Grundlagen für die Aktivierung des Justizsystems zu schaffen und dessen Unabhängigkeit zu stärken, mit dem Ziel, die Gerechtigkeit zu erreichen, auf die das syrische Volk nach Jahrzehnten der Opferbereitschaft gewartet hat.
Hintergrund
Der 8. Dezember 2024 markierte einen Wendepunkt in der Geschichte Syriens: den Sturz des Assad-Familie Regimes, das über 54 Jahre lang an der Macht war, nachdem Präsident Baschar al-Assad aus dem Land geflohen war. Die Welt bekam schnell das Ausmaß der vom Regime begangenen Verbrechen und Menschenrechtsverletzungen gegen das syrische Volk zu sehen, Bilder und Videos aus dem Gefängnis Saydnaya lieferten ein eindringliches Beispiel für das, was in den meisten Haftanstalten des Landes geschah.
Syrien hat in den vergangenen Jahrzehnten weitreichende Menschenrechtsverletzungen erlebt, von politischer Repression, Diskriminierung, willkürlichen Verhaftungen bis hin zum exzessiven Einsatz von Gewalt gegen Zivilisten, insbesondere nach Ausbruch der Aufstände gegen das Regime im Jahr 2011. Auch wenn dieser Bericht nicht den Anspruch erhebt, all diese Verbrechen zu dokumentieren, ist es notwendig, einige davon in Erinnerung zu rufen.
Die Regierungszeit von Hafiz al-Assad (1970–2000) war geprägt von massenhaften politischen Inhaftierungen, bei denen Tausende politischer Dissidenten unter härtesten Bedingungen in Einrichtungen wie dem Gefängnis Tadmor festgehalten wurden. Sein Regime führte konfessionell motivierte Repressionsmaßnahmen durch, darunter das Massaker von Hama im Jahr 1982, bei dem Zehntausende Zivilisten getötet wurden. Viele Mitglieder der Opposition wurden ins Exil gezwungen, stets unter der ständigen Bedrohung staatlicher Verfolgung.
Während dieser Zeit setzten die Behörden schwerste Foltermethoden und erniedrigende Behandlungen gegenüber politischen Gefangenen und Gewissensgefangenen ein. Öffentliche Freiheiten wurden unter einem jahrzehntelang andauernden Ausnahmezustand massiv eingeschränkt. Das Regime beging zudem Fälle des gewaltsamen Verschwindenlassens, Tausende Aktivisten und Dissidenten verschwanden spurlos.
Baschar al-Assad setzte während seiner Herrschaft (2000–2024) die Methoden seines Vaters fort, obwohl er in seiner Antrittsrede am 17. Juli 2000 zunächst positive Reformen und den Aufbau eines demokratischen Staates, der die Menschenrechte achtet, versprochen hatte. Dieses Versprechen erwies sich rasch als leere Worte: Bereits nach wenigen Monaten nahmen Repressionen Kampagnen gegen politische Aktivisten und Journalisten zu. Freiheiten wurden eingeschränkt, die Meinungsfreiheit unterdrückt, politische Parteien verboten und zivilgesellschaftliche Organisationen streng kontrolliert.
Nach den landesweiten Protesten gegen das Regime im Jahr 2011 eskalierten die Menschenrechtsverletzungen dramatisch. Das Regime beging Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen, darunter wahllose Bombardierungen, den Einsatz schwerer Waffen und Luftangriffe auf dicht besiedelte Gebiete, was zum Tod von Hunderttausenden Zivilisten führte. Internationale Organisationen dokumentierten den Einsatz chemischer Waffen, darunter Sarin-Gas, bei Angriffen wie dem Giftgasanschlag von Ghouta 2013. Willkürliche Verhaftungen und weitverbreitete Folter waren in dieser Zeit an der Tagesordnung, und zivilgesellschaftliche Organisationen belegten systematische Misshandlungen in Haftzentren. Der sogenannte „Caesar-Report“ veröffentlichte Bilder von Tausenden Gefangenen, die unter Folter starben.
Die militärischen Kampagnen des Regimes gegen syrische Städte führten zu massiven Vertreibungen. Millionen Syrer wurden innerhalb des Landes zur Flucht gezwungen oder emigrierten, was eine der größten Flüchtlingskrisen der Welt auslöste. Dokumentierte Verbrechen umfassen gezielte Angriffe auf zivile Infrastruktur wie Krankenhäuser, Schulen und Märkte, ein klarer Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht, das für innerstaatliche bewaffnete Konflikte gilt.
Auch bewaffnete Gruppen und Milizen unterschiedlicher Ausrichtung begingen schwere Verstöße, die als Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit einzustufen sind, darunter Folter, Massenhinrichtungen, der Einsatz von Kindersoldaten sowie Angriffe auf religiöse und ethnische Gemeinschaften. Auch diese Täter müssen zur Rechenschaft gezogen werden.
Herausforderungen für Syriens neue Behörden
Die neuen Behörden Syriens stehen vor gewaltigen Herausforderungen, darunter:
A. Aufbau von Institutionen:
Eine der vordringlichsten Aufgaben in Übergangs-Ländern ist der Aufbau staatlicher Institutionen, die Sicherheit gewährleisten und Gerechtigkeit sichern können. Dazu gehört die Umstrukturierung von Sicherheits- und Justizorganen, die Entfernung von Amtsträgern, die in schwere Verbrechen und Menschenrechtsverletzungen verwickelt sind, sowie die Ausbildung neuen Personals in den Bereichen Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit.
B. Etablierung der Rechtsstaatlichkeit:
Hierzu gehört die Verabschiedung neuer Gesetze, um Verantwortlichkeit und Transparenz zu fördern und die Straflosigkeit für während des Assad-Regimes begangene Verbrechen zu beenden. Zudem muss ein unabhängiges Kontrollorgan geschaffen werden, das die Arbeit der Strafverfolgungsbehörden überwacht.
C. Bewältigung wirtschaftlicher und sozialer Schäden:
Der bewaffnete Konflikt hat enorme wirtschaftliche Schäden verursacht: Ganze Großstädte liegen in Trümmern, die Infrastruktur in weiten Teilen Syriens ist zerstört. Jahrzehnte der Spaltung und des Konflikts haben zudem tiefe soziale Wunden hinterlassen, deren Heilung ernsthafte Anstrengungen erfordert, um den gesellschaftlichen Frieden wiederherzustellen. Die Stabilität Syriens wird nur durch anhaltende lokale und internationale Bemühungen zu erreichen sein, die den Sehnsüchten der syrischen Bevölkerung nach einem Leben in Frieden, Würde und Sicherheit gerecht werden.
Übergangsjustiz als Rahmenkonzept
Für die Verwirklichung von Gerechtigkeit nach dem politischen Wandel in Syrien bietet die Übergangsjustiz einen geeigneten rechtlichen Rahmen, um das Erbe jahrzehntelanger Menschenrechtsverletzungen und Gräueltaten aufzuarbeiten. Der Aufbau eines wirksamen Systems der Übergangsjustiz zur strafrechtlichen Verfolgung von Tätern erfordert einen umfassenden, mehrdimensionalen Ansatz, der sowohl die Wiedergutmachung für die Opfer gewährleistet als auch künftige Verstöße verhindert. Vorgeschlagene Maßnahmen umfassen:
1. Einrichtung einer unabhängigen Kommission für Übergangsjustiz:
Diese Kommission soll die während des Konflikts begangenen Verbrechen untersuchen und in Abstimmung mit den zuständigen Institutionen und Akteuren einen umfassenden Plan für die Übergangsjustiz entwickeln. Sie muss unparteiische Richter, Anwälte und Menschenrechtsexperten einbeziehen, um ihre Integrität zu sichern. Opfer und zivilgesellschaftliche Organisationen sollen aktiv in die Arbeit und Entscheidungen der Kommission eingebunden werden, um Transparenz zu gewährleisten.
2. Einrichtung von Wahrheitskommissionen:
Diese sollen Menschenrechtsverletzungen dokumentieren, Opferberichte sammeln und die Fakten zu den begangenen Gräueltaten aufklären. Wahrheitskommissionen können öffentliche Anhörungen organisieren, in denen Überlebende ihre Erfahrungen schildern, um die Dokumentation zu erweitern und die gesellschaftliche Versöhnung zu fördern. Ein bekanntes Beispiel ist die Wahrheits- und Versöhnungskommission in Südafrika.
3. Sicherstellung von Wiedergutmachung:
Dies umfasst die Gewährung finanzieller oder moralischer Entschädigungen an die Opfer und ihre Familien, abgestimmt auf das erlittene Leid. Wiedergutmachung kann in Form von Geldzahlungen oder monatlichen Unterstützungsleistungen erfolgen, ebenso wie in moralischer Form, etwa durch offizielle Entschuldigungen. Die Einrichtung nationaler oder internationaler Unterstützungsfonds kann die Entschädigung der Opfer erleichtern.
Die Bedeutung präziser Dokumentation
Es ist unerlässlich, einen sorgfältigen Dokumentationsprozess einzuleiten, da eine präzise Erfassung sicherstellt, dass Täter nicht der Gerechtigkeit entkommen, historische Aufzeichnungen bewahrt werden und das Bewusstsein für die begangenen Verbrechen wächst. Dazu müssen nationale Zentren zur Dokumentation von Verbrechen eingerichtet und Beweise systematisch gesichert werden, um ihre Nutzung in Gerichtsverfahren zu gewährleisten.
In diesem Zusammenhang ist der Einsatz moderner Techniken, wie Fotos und Videos, von entscheidender Bedeutung, ebenso wie die Nutzung fortschrittlicher Bildgebungsverfahren zur Analyse von Tatorten und die wissenschaftlich fundierte Erhebung und Auswertung von Zeugenaussagen von Überlebenden, um ihre Verlässlichkeit sicherzustellen. Vorrangig ist die Wiederbeschaffung von Dokumenten und Beweismaterial, die in Gefängnissen, Haftzentren und staatlichen Institutionen beschlagnahmt wurden.
Das Chaos, das mit der Öffnung der Gefängnistore und der Freilassung von Häftlingen einherging, führte zum Verlust vieler Dokumente und Beweisstücke, die für künftige Gerichtsverfahren entscheidend sein werden. Das Geneva International Centre for Justice (GICJ) ist der Ansicht, dass deren Wiederbeschaffung höchste Priorität haben muss.
Darüber hinaus werden forensische Instrumente für die Analyse von Massengräbern und die Identifizierung von Opfern unverzichtbar sein. Spezialisierte DNA-Labore spielen hierbei eine Schlüsselrolle. Es muss sichergestellt werden, dass Massengräber vor Manipulation geschützt und nur durch offizielle und spezialisierte Ausschüsse geöffnet werden. Dabei können Angehörige der Opfer sowie syrische und internationale Nichtregierungsorganisationen einbezogen werden, jegliche eigenmächtigen Handlungen sind jedoch strikt zu untersagen.
Rechenschaftspflicht
Täter zur Verantwortung ziehen
Nach Abschluss der Beweisaufnahme und Dokumentation beginnt die Phase der Gerichtsverfahren. Niemand darf ohne ein gesetzlich gebildetes Spezialgericht verurteilt oder bestraft werden, solche Gerichte müssen faire Verfahren mit allen wesentlichen rechtsstaatlichen Garantien sicherstellen. Die Prozesse müssen ein echtes Instrument zur Herstellung von Gerechtigkeit sein und der jahrzehntelang vorherrschenden Kultur der Straflosigkeit ein Ende setzen und keine Rache Gerichte unter dem Deckmantel der Justiz darstellen.
Diese Verfahren müssen internationalen Standards entsprechen, darunter:
- Sicherstellung des Rechts der Angeklagten auf Verteidigung, entweder durch einen Anwalt ihrer Wahl oder mit Unterstützung des Gerichts.
- Verbot der Erzwingung von Geständnissen durch Zwang oder Folter.
- Durchführung öffentlicher Verfahren, soweit möglich.
Für Verfahren innerhalb des nationalen Justizsystems kann es notwendig sein, spezielle nationale Gerichte einzurichten, um Verantwortliche für schwere Verbrechen wie Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu verfolgen oder sie in bestehenden Gerichten abzuurteilen.
Ein entscheidender Aspekt ist die Gewährleistung der Unabhängigkeit der Justiz und die Verhinderung von Eingriffen der Exekutive in Gerichtsverfahren. Einige Gesetze müssen möglicherweise geändert werden, um sie an internationales Recht, wie die Genfer Konventionen , anzupassen und faire Verfahren sicherzustellen. Zudem ist ein wirksamer Schutz für Zeugen und Richter erforderlich, um sie vor Bedrohungen oder Einschüchterungen zu bewahren.
In bestimmten Fällen kann es notwendig sein, internationale Gerichte wie den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) anzurufen, um Personen wegen schwerer internationaler Verbrechen zu verfolgen. Auch das Prinzip der universellen Gerichtsbarkeit kann in Ländern, die es anwenden, insbesondere in europäischen Staaten, genutzt werden, um Beschuldigte zu verfolgen, wenn eine Verurteilung vor syrischen Gerichten nicht möglich ist.
Restaurative Gerechtigkeit und Wiedereingliederung
Gerechtigkeit kann nicht vollständig erreicht werden, ohne Opfern und ihren Familien psychologische und soziale Unterstützung zukommen zu lassen. Ehemalige Häftlinge und durch Folter oder Krieg traumatisierte Menschen müssen rehabilitiert werden. Es gilt, Programme zur Wiedereingliederung von Personen zu entwickeln, die unter Zwang in den Konflikt hineingezogen wurden, darunter auch Kindersoldaten.
Dies schließt Aufklärungsprogramme für Kinder ein, um zu verhindern, dass sie zu einer künftigen Gefahr für den gesellschaftlichen Frieden werden. Spezialisierte Traumazentren für Überlebende müssen eingerichtet und Bildungs- sowie Berufs Programme gestartet werden, um Betroffene wieder in die Gesellschaft zu integrieren.
Gerechte Rechenschaftspflicht
Um umfassende Gerechtigkeit zu erreichen, muss die Rechenschaftspflicht alle Parteien betreffen, die schwere Verstöße begangen haben. Gerechtigkeit muss umfassend sein und die Verbrechen des Regimes, der Oppositionskräfte und der bewaffneten Gruppen gleichermaßen berücksichtigen, niemand darf über dem Gesetz stehen. Vergeltung muss vermieden werden, und die Gesellschaft muss verstehen, dass Gerechtigkeit eine rechtliche Notwendigkeit ist, kein Instrument persönlicher Rache.
Hier spielen die Zivilgesellschaft und gesellschaftliche Führungspersönlichkeiten eine wichtige Rolle, indem sie Aufklärungsarbeit leisten und die Gesellschaft vor Rachegedanken schützen.
Förderung gesellschaftlicher Stabilität
Bemühungen zur Stabilisierung der Gesellschaft werden maßgeblich den Weg zu Gerechtigkeit in Syrien beeinflussen. Dazu gehören ein umfassender nationaler Dialog unter Einbeziehung aller gesellschaftlichen Gruppen sowie Maßnahmen zur Heilung sozialer Wunden, etwa symbolische Zeremonien zur Ehrung der Opfer oder die Errichtung von Denkmälern.
Ebenso wichtig ist die Aufnahme von Menschenrechts- und Staatsbürgerkunde in die Lehrpläne, die Organisation von Workshops und Schulungen zur Förderung gemeinschaftlicher Rechenschafts Initiativen sowie die Nutzung der Medien zur Aufklärung über Übergangsjustiz. Auf diese Weise können lokale Gemeinschaften aktiv in die Bemühungen einbezogen werden, Gerechtigkeit für alle Opfer von Menschenrechtsverletzungen zu schaffen.
Die Rolle der internationalen Gemeinschaft
In der Wiederaufbauphase Syriens darf die internationale Gemeinschaft nicht außer Acht gelassen werden. Wichtige internationale Akteure, wie der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, der Menschenrechtsrat sowie regionale Organisationen wie die Europäische Union und die Arabische Liga, können technische und finanzielle Unterstützung leisten, um Justiz Institutionen aufzubauen, die faire Verfahren gewährleisten und bei der Strafverfolgung von Tätern helfen.
Syrische Stellen werden möglicherweise internationale technische Hilfe benötigen, um Massengräber zu öffnen und die sterblichen Überreste zur Identifizierung der Opfer zu untersuchen. Die von den Vereinten Nationen eingerichteten Ausschüsse zur Syrien-Frage, wie der im Dezember 2016 von der UN-Generalversammlung geschaffene International, Impartial and Independent Mechanism (IIIM), können eine unterstützende Rolle bei der Untersuchung und Strafverfolgung der Verantwortlichen für die schwersten Verbrechen nach internationalem Recht seit März 2011 spielen.
Auch die Unabhängige Internationale Untersuchungskommission zu Syrien, die der Menschenrechtsrat im August 2011 eingerichtet hat, um mutmaßliche Verstöße gegen internationales Menschenrecht seit März 2011 zu untersuchen, wird von entscheidender Bedeutung sein. Diese Gremien sollen die syrischen Bemühungen ergänzen.
Die internationale Gemeinschaft sollte zudem die Aufhebung von Sanktionen unterstützen, die auf Grundlage von Resolutionen des Sicherheitsrats verhängt wurden, und die Freigabe eingefrorener syrischer Gelder erleichtern. Umfassende Unterstützung für das syrische Volk ist in dieser neuen Phase unerlässlich.
Lehren aus anderen Ländern
Die Erfahrungen anderer Staaten, innerhalb und außerhalb der Region, können wertvolle Hinweise für den Weg Syriens zu Gerechtigkeit und Versöhnung liefern. Zwar ist jeder Fall durch seine eigenen Umstände geprägt und muss auf den syrischen Kontext zugeschnitten werden, dennoch bieten andere Beispiele, ob erfolgreich oder durch Schwierigkeiten geprägt, wichtige Lehren.
In diesem Zusammenhang gilt die südafrikanische Wahrheits- und Versöhnungskommission (Truth and Reconciliation Commission, TRC) als eines der bedeutendsten Beispiele für Übergangsjustiz weltweit. Nach Jahrzehnten der Apartheid, in denen die schwarze Bevölkerungsmehrheit systematischen Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt war, wurde die TRC 1994 unter der Leitung von Erzbischof Desmond Tutu gegründet. Ein zentrales Merkmal war die Durchführung öffentlicher Anhörungen, bei denen sowohl Opfer als auch Täter ihre Aussagen machten. Der Prozess stellte die Wahrheitsfindung in den Vordergrund und versuchte, ein sensibles Gleichgewicht zwischen Gerechtigkeit und Versöhnung zu schaffen, ein entscheidender Schritt zur Stabilität im post-apartheidlichen Südafrika.
Schlussfolgerung
Die Verwirklichung von Gerechtigkeit und die Stärkung der Rechtsstaatlichkeit in Syrien erfordern koordinierte Anstrengungen auf lokaler wie internationaler Ebene, um die gewaltigen Herausforderungen eines Landes zu bewältigen, das jahrzehntelanges Leid erfahren hat. Übergangsjustiz darf sich nicht darauf beschränken, vergangenes Unrecht aufzuarbeiten; sie muss das Fundament für eine stabile Zukunft legen, die auf der Achtung der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit beruht. Ohne diese entscheidenden Schritte droht Syrien eine anhaltende Instabilität und die vertane Chance, einen modernen, widerstandsfähigen Staat aufzubauen.
Das Geneva International Centre for Justice (GICJ) betont die Notwendigkeit, ein Gleichgewicht zwischen Gerechtigkeit und der Sicherheit der Gemeinschaft zu wahren. Übermäßige Nachsicht kann zur Straflosigkeit führen, während ein überharter Einsatz des Strafrechts es zu einem Instrument der Rache gegen Personen machen kann, die zwar mit dem Regime in Verbindung standen, selbst jedoch keine Menschenrechtsverletzungen gegen das syrische Volk begangen oder daran mitgewirkt haben. Dies würde unweigerlich neue Spaltungen in der Gesellschaft erzeugen und weitere Opfer hervorbringen.
Syrien verfügt über enormes Potenzial in verschiedenen Bereichen, doch ohne eine engagierte und geeinte Unterstützung der internationalen Gemeinschaft wird es nicht in der Lage sein, die Herausforderungen der Vergangenheit zu überwinden. Diese Unterstützung muss politische, wirtschaftliche und technische Hilfe umfassen und zugleich darauf abzielen, Frieden zu fördern und die Souveränität des Landes zu respektieren, durch Verzicht auf Einmischung in seine inneren Angelegenheiten.
Read in English